Präventionsverfahren bereits innerhalb der Probezeit?

Arbeitsverhältnisse beginnen auch bei schwerbehinderten Beschäftigten regelmäßig mit einer sechsmonatigen sogenannten Probezeit, der Wartefrist des § 1 KSchG. Innerhalb dieses Zeitraums können Arbeitsverhältnisse regelmäßig ohne Vorliegen von verhaltens-, personen- oder betriebsbedingten Gründen unter erleichterten Bedingungen und unter Anwendung einer zumeist kürzeren Kündigungsfrist beendet werden.

Erst nach Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist greift der allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz. Bei schwerbehinderten Menschen tritt außerdem zu diesem Zeitpunkt der besondere Kündigungsschutz aus §§ 168 ff. SGB IX hinzu, sodass Probezeitkündigungen auch bei schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Beschäftigten innerhalb der Probezeit bis zum letzten Tag der Wartefrist unter erleichterten Bedingungen rechtswirksam möglich sind.

Der EuGH hat diese Systematik jedoch in seinem Urteil vom 10.02.2022 (EuGH, Urt. v. 10.02.2022, Az. C-485/20 HR Rail) grundsätzlich im Rahmen eines Rechtsstreits in Belgien in Frage gestellt. Wir berichteten über dieses Urteil in unserem Artikel: EuGH: Kündigungsschutz für Schwerbehinderte Arbeitnehmende bereits in der Probezeit?

Durchführung eines Präventionsverfahrens

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Im deutschen Arbeitsrecht sieht der § 167 Abs. 1 SGB IX ein sogenanntes Präventionsverfahren vor, mit dem eine Kündigung unter Einbeziehung des Integrationsamtes, einer eventuellen Schwerbehindertenvertretung, der zuständigen Arbeitsnehmervertretung u. a. möglichst vermieden und somit die Beschäftigung dauerhaft fortgesetzt werden soll. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat diese Verpflichtung des Arbeitgebers jedoch erst nach erfolgreicher Beendigung der Probezeit vorgesehen (BAG, Urt. v. 21.04.2016, 8 AZR 402/14), so dass ein durchgeführtes Präventionsverfahren nach SGB IX keine Voraussetzung für eine rechtswirksame Kündigung während der Probezeit darstellt..

In einem aktuellen Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 20.12.2023 (ArbG Köln, Urt. v. 20.12.2023, 18 Ca 3954/23) wurde jedoch unter Bezugnahme auf die ausgeführte Rechtsprechung des EuGH die Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten während der Probezeit aufgrund eines fehlenden Präventionsverfahrens nach SGB IX als unwirksam erachtet. In dem aktuellen Verfahren klagte ein Beschäftigter des öffentlichen Dienstes gegen seine Kündigung während der Probezeit und begründete dies mit einem Verstoß gegen die EU-Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie: auch während der Probezeit hätte ein Präventionsverfahren durchgeführt werden müssen. Diese Nichtberücksichtigung der gesetzlichen Pflicht des Arbeitgebers indiziere, dass er aufgrund seiner Schwerbehinderung diskriminiert worden wäre. Das Arbeitsgericht Köln folgt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH dieser Auffassung und erachtetet die Kündigung innerhalb der Probezeit für unwirksam.

Dieses Urteil des Arbeitsgerichts Köln könnte zukünftig die Kündigungsmöglichkeiten von Arbeitgebern gegenüber schwerbehinderten Menschen innerhalb der Probezeit deutlich erschweren, wenn sich diese Rechtsprechung bestätigt.

Arbeitgebern, die eine Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten beabsichtigen, ist somit dringend die Durchführung eines Präventionsverfahrens auch innerhalb der Probezeit zu empfehlen, falls das Urteil HR-Rail des EuGH auch zu einer Änderung der Rechtsprechung des BAG bezüglich der Notwendigkeit eines Präventionsverfahrens innerhalb der Wartefrist des § 1 KSchG führt. Dies bedeutet in der Praxis insbesondere auch die Erprobung auf anderen verfügbaren Arbeitsplätzen, soweit dies nicht für eine Vertragspartei unverhältnismäßig oder unzumutbar ist.  An dieser Stelle bleibt daher die weitere Rechtsprechung abzuwarten.

(Artikel erstellt am 05.03.2024)

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Die Schwerbehinderung im Arbeitsrecht von der Bewerbung bis zur Kündigung (SGB IX)

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Der Verfasser

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Tobias R. Thauer
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  • Beschäftigungszeiten im TVöD-VKA/ Bund und TV-L inkl. Überleitungstarifverträge
  • Das Recht der schwerbehinderten Menschen für Arbeitgebende
  • Nebentätigkeitsrecht

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