Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung

Wie wirkt sich die Unterschreitung des gesetzlichen Schwellenwertes auf die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung aus?

Kommentar zum Beschluss des BAG vom 19. Oktober 2022 – BAG 4 AZR 500/21 –

Gegenstand des Beschlussverfahrens des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 19.10.2022 war, ob die Schwerbehindertenvertretung nach SGB IX mit dem Absinken der schwerbehinderten Beschäftigtenzahl unter den Schwellenwert weiterhin als Gremium existiert und vertretungsfähig ist und somit nach Maßgabe des § 178 SGB IX bei Entscheidungen, die schwerbehinderte Menschen betreffen, zu beteiligen ist.

Für die Praxis der Personalverantwortlichen ist diese Fragestellung in erster Linie relevant im Zusammenhang mit der Kündigung eines schwerbehinderten Beschäftigten. Möchten Arbeitgebende einem schwerbehinderten oder gleichgestellten Arbeitnehmenden kündigen, so muss der Arbeitgebende zuvor die Schwerbehindertenvertretung unverzüglich und umfassend unterrichten und sie vor seiner Entscheidung anhören (§ 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX). Unterlassen Arbeitgebende dies, so ist die Kündigung nach § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX schon aus formalen Gründen unwirksam.

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Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Fall in einem Kölner Betrieb der klinischen Forschung mit 120 Mitarbeitenden. Bei der Arbeitgeberin wurde im November 2019 eine Schwerbehindertenvertretung gewählt. Nachdem zum August 2020 die Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten unter den Schwellenwert auf vier schwerbehinderte Beschäftigte sank, hatte die Arbeitgeberin der Schwerbehindertenvertretung mitgeteilt, dass diese nun – vor Ablauf der Regelamtszeit von vier Jahren nach § 177 Abs. 7 SGB IX – nach ihrem Dafürhalten aufgelöst und somit auch nicht mehr bei Entscheidungen, die schwerbehinderte Menschen betreffe, zu beteiligen sei. Die Schwerbehindertenvertretung vertrat demgegenüber die Auffassung, dass die Gründe, die zum vorzeitigen Erlöschen der Vertretung führen würden, in § 177 Abs. 7 SGB IX abschließend geregelt seien. Das Unterschreiten des Schwellenwertes würde demnach nicht zur Auflösung des Gremiums führen.

Bereits 2008 hatte das LAG Niedersachsen (Urteil v. 20.08.2008 – 15 TaBV 145/07) entschieden, dass zumindest dann, wenn die Anzahl der schwerbehinderten Beschäftigten insgesamt dauerhaft unter fünf Personen sinke, auch die Amtszeit einer Schwerbehindertenvertretung endet. 

Darauf stützte sich sodann auch das LAG Köln im Vorverfahren zum aktuellen BAG Beschluss (Beschluss LAG Köln v. 31.08.2021 – 4 TaBV 19/21) und führte aus, dass die Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung ende, wenn die Anzahl der Schwerbehinderten und der ihnen gleichgestellten Beschäftigten im Betrieb auf unter fünf absinke. Als Begründung führte das LAG Regelungen aus dem Betriebsverfassungsrecht an: Die wesentlichen Grundsätze für das Ende der Amtszeit des Betriebsrats seien auch auf die Schwerbehindertenvertretung übertragbar. Das Amt des Betriebsrats ende, wenn die Zahl der in der Regel ständig Beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend die vorgeschriebene Mindestanzahl von fünf Arbeitnehmern unterschreite (BAG, Urteil v. 7. April 2004 – 7 ABR 41/03).

Die Entscheidung des Gerichts 

Dies sah der 7. Senat des BAG im vorliegenden Beschlussverfahren anders. Das BAG erkennt gegenüber den Vorinstanzen keine gesetzliche Vorschrift, welche die vorzeitige Beendigung des Amts der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Anzahl schwerbehinderter Beschäftigter unter den Schwellenwert von fünf Arbeitnehmenden vorsehe. Eine vorzeitige Beendigung sei auch nicht aus gesetzessystematischen Gründen oder im Hinblick auf Sinn und Zweck des Schwellenwerts anzunehmen.  

Für Personalverantwortliche in der Praxis hat dies zur Konsequenz, dass in einer solchen Konstellation die Schwerbehindertenvertretung weiterhin berücksichtigt werden muss. Bereits ausgesprochene Kündigungen müssen ggf. neu ausgesprochen werden mit sämtlichen daraus resultierenden Folgen (z. B. längere Lohnfortzahlungskosten, neue Anhörungen bzw. Unterrichtungen).

(Artikel erstellt am 25.04.2023)

Der Verfasser

Thauer

Tobias R. Thauer
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