EuGH: Kündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmende bereits in der Probezeit?

Kommentar zum Beschluss des C-485/20 HR Rail

Auch für schwerbehinderte Beschäftigte beginnt ein Arbeitsverhältnis mit der regelmäßig sechsmonatigen Wartezeit des § 1 KSchG, in der Praxis zumeist als Probezeit bezeichnet. Erst nach dem erfolgreichen Absolvieren dieser Wartefrist unterliegen diese Arbeitsverhältnisse dem allgemeinen Kündigungsschutz des KSchG und dem besonderen Kündigungsschutz für schwerbehinderte Beschäftigte nach § 168 SGB IX.

Der besondere Kündigungsschutz umfasst im Wesentlichen das Zustimmungserfordernis des Integrationsamtes bei Kündigungen gegenüber schwerbehinderten Beschäftigten. Dies betrifft regelmäßig nicht nur Beendigungskündigungen, sondern ebenso Änderungskündigungen und andere Beendigungstatbestände.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 10.02.2022 (Az. C-485/20 HR Rail) jedoch festgestellt, dass die Kündigung von schwerbehinderten Beschäftigten auch in der Probezeit nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist. Das Urteil könnte dazu führen, dass Arbeitgebende künftig bei einer in der Probezeit erwogenen Kündigung von schwerbehinderten Beschäftigten prüfen müssen, ob eine Beschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz möglich ist.

AdobeStock 128779524 WavebreakMediaMicro Newsletter0623 628x266

Der Sachverhalt beim EuGH

Der EuGH hatte im Februar 2022 über einen Fall aus Belgien zu entscheiden. Die Arbeitgeberin der Bediensteten war die belgischen Eisenbahngesellschaft HR Rail, bei der der Kläger als Gleisarbeiter beschäftigt und während der Probezeit gekündigt werden sollte.

Der Gleisarbeiter konnte aufgrund eines medizinischen Eingriffs seine ursprüngliche Tätigkeit nicht mehr ausüben. Zudem wurde ihm eine Schwerbehinderung bestätigt. Die Arbeitgeberin hatte den schwerbehinderten Beschäftigten zunächst als Mitarbeitenden im Lagerbereich weiterbeschäftigt. Wenig später kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis jedoch während der Probezeit mit der Begründung, dass es ihm endgültig und völlig unmöglich sei, die Aufgaben, für die er ursprünglich eingestellt worden sei, zu erfüllen.

Der Beschäftigte klagte und machte geltend, wegen seiner Behinderung diskriminiert worden zu sein. Seine Kündigung widerspräche der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG), die die Diskriminierung von Menschen mit Schwerbehinderung im Arbeitsverhältnis untersage. Insbesondere sieht Art. 5 der Richtlinie vor, dass Arbeitgebende angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen treffen muss. Nach Auffassung des Klägers gehört dazu auch die Prüfung einer möglichen Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz auch während der Probezeit, bevor die Arbeitgeberin eine Beendigungskündigung aussprechen kann.

Das belgische Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 5 der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie die Arbeitgeberin verpflichtet, schwerbehinderten Beschäftigten vor einer Beendigungskündigung einen anderen geeigneten Arbeitsplatz zum Erhalt des Arbeitsverhältnisses zuzuweisen. Dies solle unter der Voraussetzung stehen, dass betroffene Beschäftigte mit Blick auf einen anderen Arbeitsplatz kompetent, fähig und verfügbar sind und diese Maßnahme keine übermäßige Belastung des Arbeitgebenden darstellt.

Der EuGH stellt in seinem Urteil fest, dass der Begriff "angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung" beinhalte, dass schwerbehinderte Beschäftigte, die aufgrund ihrer Behinderung für ungeeignet gehalten werden, die wesentlichen Inhalte der bisherigen Aufgabe zu erfüllen, auf einer anderen freien Stelle einzusetzen sind. Dies jedoch nur insoweit, als dass sie für die andere Stelle notwendigen Kompetenzen, Fähigkeiten und Verfügbarkeiten aufweisen. Das gelte auch während der Probezeit schwerbehinderter Menschen.

Diese Verpflichtung der Arbeitgeberin bestünde allerdings nur, so der EuGH in seinen Ausführungen, soweit die Arbeitgeberin durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird. Maßgebliche Kriterien seien hierbei der finanzielle Aufwand sowie die Größe der Arbeitgeberin, die Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens sowie die Verfügbarkeit von weiteren Unterstützungsmöglichkeiten, typischerweise öffentliche Fördermittel.

Auswirkungen auf das deutsche Arbeitsrecht

Das Urteil des EuGH stellt die erleichterte Kündigungsmöglichkeit während der Probezeit im deutschen Arbeitsrecht nun in Frage. Wollen Arbeitgebende nicht die Unwirksamkeit einer Probezeitkündigung riskieren, werden sie bei schwerbehinderten Beschäftigten künftig zuvor prüfen müssen, ob nicht die Beschäftigung auf einem anderen – freien – Arbeitsplatz im Unternehmen in Betracht kommt. Diese Pflicht kann auch Umschulungen und umfangreiche Fortbildungen umfassen, wenn sie die Arbeitgebenden nicht "unverhältnismäßig belasten".

Als Maßstab für die erforderlichen Prüfungshandlungen und Zumutbarkeitsgrenzen des Arbeitgebenden können die Verpflichtungen des Präventionsverfahrens aus § 167 Abs. 1 SGB IX herangezogen und müssen zukünftig von der Arbeitsgerichtsbarkeit präzisiert werden. Diese Präventionsverpflichtung ergab sich nach bisheriger Rechtsprechung des BAG zwar erst nach Vollendung des sechsten Beschäftigungsmonats (BAG Urteil v. 21.04.2016 – 8 AZR 402), dennoch sollten Personalverantwortliche in der Praxis dieses Verfahren zukünftig auch bei Probezeitkündigungen berücksichtigen.

Ergebnis

Die Verpflichtung zur Durchführung des Präventionsverfahrens zum Erhalt von Arbeitsverhältnissen schwerbehinderter Beschäftigter ergibt sich nicht aus den §§ 1, 23 KSchG, sondern aus den Regelungen des § 167 Abs. 1 SGB IX. Insoweit ist auch der Auffassung zu folgen, dass dieses Erfordernis mit Blick auf das Urteil des EuGH nunmehr auch während der Wartefrist nach KSchG und SGB IX in der Praxis berücksichtigt werden muss (ErfK/Rolfs, 23. Aufl. 2023, SGB IX § 167 Rn. 1).

Wo in der Praxis die Grenzen des Zumutbaren zu ziehen sind, werden auch zukünftig im Einzelfall die deutschen Arbeitsgerichte ggf. auch bereits während der Probezeit feststellen müssen. Die Grenze dürfte jedoch auch in diesen Fällen auch in der Probezeit dort gezogen werden, wo die Beschäftigung zum „Zuschussgeschäft“ wird (BAG Urt. v. 19.12.2013, 6 AZR 190/12, Rn. 90). Zumindest werden künftig für Probezeitkündigungen unterschiedliche Anforderungen gelten, je nachdem, ob der betroffene Beschäftigte schwerbehindert ist oder nicht.

.

(Artikel erstellt am 21.06.2023)

.

Der Verfasser

Bild Thauer

Tobias R. Thauer
PIW-Trainer

 ..Beratungs- und Trainingsschwerpunkte

  • Das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes
  • TVöD Bund VKA und TV-L
  • Eingruppierung (Erfahrungsstufen, §§ 16, 17 TVöD-Bund/ VKA und TV-L)
  • Gesetzliches und tarifvertragliches Befristungsrecht
  • Urlaubsrecht
  • Beschäftigungszeiten im TVöD-VKA/ Bund und TV-L inkl. Überleitungstarifverträge
  • Das Recht der schwerbehinderten Menschen für Arbeitgebende
  • Nebentätigkeitsrecht

AdobeStock 353956998 accoglienteBleiben Sie immer up-to-date mit unserem Newsletter!

.

Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Artikel gelegentlich nur die männliche oder weibliche Form verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter (m/w/d).

Seminare Hintergrundbild